Eine kurze Einleitung zu den...
Erzählungen aus dem Hospiz
Woher kam die Idee?
Ich wusste schon lange, dass ich schwerkranke und sterbende Menschen mit meiner Harfe begleiten kann und dass ich das irgendwann ausprobieren möchte. Nach einer Fortbildung für Musik am Kranken- und Sterbebett spielte ich erstmals 2016 und seit 2019 jede Woche im Hospiz Karl Josef, in der Freiburger Wiehre. Ich spiele für die Sterbenden, direkt an ihren Betten, meist ohne weitere Anwesenden. Hinter jeder der acht Zimmertüren ist eine andere Welt, jede Woche ist ein anderes Erlebnis. Manchmal passiert viel, manchmal (auf dem ersten Blick) weniger.
Was mache ich da?
Ich kann den Sterbenden, für die ich spiele, nichts abnehmen. Ich kann nur eine Wegbegleiterin sein. Ich setze mich an ihren Betten und spiele für sie - in der Musik atme ich für sie und mit ihnen. Ich bringe den Raum zum Klingen, verbinde Himmel und Erde. Und wenn ich gehe, "klingt es nach" (Zitat eines Hospiz-Gastes).
Warum darüber schreiben?
Ich habe bemerkt, dass es Menschen berührt, wenn ich von meinen Erfahrungen im Hospiz erzähle. Man ist als 'gesunder' Mensch mit der Welt hinter den Hospiz-Türen in der Regel nicht vertraut. Eher gibt es etwas 'Schreck' oder Unbehagen, sobald es um das Thema Sterben, Sterbenden, Hospize oder Palliativ-Stationen geht.
Ich bin fasziniert von diesem Lebens- und Arbeitsbereich. Es ist für mich wie eine Schatzkiste. Und so habe ich angefangen, manche Erfahrungen die ich dort mache, aufzuschreiben. Manchmal sind es konkrete Begegnungen die ich beschreibe, manchmal auch meine Gedanken zu dem, was ich dort beobachte oder erlebe.
Wenn Sie möchten, kann ich Sie in diese Welt etwas mitnehmen, und Ihnen von meiner Sicht und meinen Erfahrungen erzählen. Um über neue Erzählungen informiert zu bleiben, können Sie ab und zu auf meiner Website vorbeischauen. Sie können sich auch für meinen Newsletter anmelden, da finden Sie regelmäßig kurze Einleitungen zu den Geschichten.
Die Erzählungen
1
Glücksgefühle?
Das Gesicht der alten Dame hatte sehr feine Züge und war das einzige, das über die dünne Bettdecke rausschaute. Mit hoher Stimme freute sie sich sehr, dass ich sie in ihrem Zimmer besuchte - sie strahlte wie die Sonne.
Nach dem ersten Stück füllte ich den Raum mit den Tönen eines zweiten Stückes - ohne zu verraten, was ich spielen würde. Fast direkt fing die Dame zu weinen an. Sie brachte ihre dünne Hände von unter der Bettdecke zu ihrem Gesicht, und ‚hielt‘ es selber. Während ich leise weiterspielte, fragte ich sie, ob es für sie in Ordnung ist, und ob ich weiterspielen soll.
Mit den Strahlen der tiefhängenden Sonne im Zimmer und mit der Erlaubnis dieser alten Dame, sie durch eine (wie sich später herausstellte) wunderbare Erinnerung aus ihren jungen Jahren zu begleiten, spielte ich dieses Stück mehrmals hintereinander, bis ich das Gefühl hatte, dass es gut war.
Ein paar Tage später erzählte sie dem pflegenden Personal, dass eine Harfe für sie spielt. Wenige Stunden danach schlief sie friedlich ein.
2
Hinter den Türen
Ich möchte beschreiben, was ich vom ‚Hospizalltag‘ mitbekomme wenn ich da bin, und meine (möglicherweise laienhaften) Gedanken dazu formulieren.
Hinter den Türen des Hospizes wirkt es auf mich manchmal wie eine Oase: es gibt dort eine große Ruhe, Sorgfalt, Achtsamkeit vor und in den letzten, verbleibenden Tagen, Wochen oder manchmal auch Monaten. Es sind immer Menschen da, sowohl Gäste als auch Pflegepersonal und das Haus ist für Verwandten durchgehend (telefonisch) erreichbar. Die Uhr hat weniger Bedeutung, man wartet ab was kommt: niemand kann wirklich planen oder vorhersagen.
Es gibt natürlich trotzdem so was wie einen gestalteten Alltag: gemeinsames Frühstück, gemeinsamen Kaffee & Kuchen, gemeinsames Abendessen - alles wo weit, wie es den Gästen möglich ist. Manche nehmen nicht teil, vielleicht wollen sie einfach ihre Ruhe, oder können sie nicht mehr aufstehen. Oder können nicht mehr gut essen, und sitzen dann auch nicht gerne mit am Tisch. Es werden manchmal Brettspiele gespielt, es kommen spezialisierte Physiotherapeuten vorbei, mancher Psychotherapeut begleiten ihre Patienten auch in dieser Phase, es werden Geschichten ausgetauscht, es gibt Kunsttherapie.
Die Zimmer können von den Gästen und ihren Familien ganz individuell gestaltet werden. Die Möbel sind verschiebbar, die Bilder an der Wand kann man runternehmen und eigene aufhängen. Manche bringen nur wenig persönliche Gegenstände mit, und lassen das Zimmer weitgehend so, wie sie es vorfinden. Andere Zimmer werden zu einem komprimierten Form vom ‚alten‘ Zuhause, oder auch zu einem Ausdruck der persönlichen Vorlieben.
Vielleicht wollen das manche so haben, eine Art von (emotionale?) Neutralität. Vielleicht kommen manchen Angehörige nicht auf die Idee, groß was daraus zu machen oder fällt ihnen nicht so viel ein. Vielleicht hat der Gast nicht die Kraft, eigene Wünsche zu äußern, oder möchten manche sehr Bescheidenen keine Umstände machen. Vielleicht müssen beide Seiten diesen ‚Umzug’ erst mal auf einer anderen Art verarbeiten. Aber das sind so meine persönliche Vorstellungen dazu. Mir ist bewusst, dass alles Geschehen Vielschichtig ist, und meine Meinung ist darum nicht so wichtig. Ich denke nur (bei alles Weisheit ;-)) manchmal so leise vor mich hin.
Doch manche Kleinigkeiten (oder auch Großigkeiten ) können so schön sein: die eigene Bettdecke, Familienfotos, Bilder von langjährigen, geliebten Lebensbegleiter (z.B. der grünen Papagei), eine große Maria-Statue, SC Freiburg-Fahnen….
Wenn ich in die Situation kommen würde, ins Hospiz ziehen zu müssen, hätte ich sehr gerne eine kleine Troubadour-Harfe mit in meinem Zimmer. Man könnte darauf spielen (ich am Ende wohl eher nicht mehr), das muss aber auch nicht sein. Ihre ‚Anwesenheit‘ würde mir Vertrauen und Zuversicht geben.
3
Mitbewohner
Ich frage mich manchmal wie es ist, im Hospiz einanders ‚Mitbewohner‘ zu sein. Man hätte als Bekannten im ‚normalen‘ Leben möglicherweise kein besonders intensives Verhältnis miteinander gehabt. Und jetzt, obwohl man sich als Unbekannten begegnet, hat man was Außergewöhnliches, oder, wenn man es so nennen möchte, ‚Gravierendes’ gemeinsam: eine tödliche Krankheit, das Warten, das Verabschieden.
Und das ist einerseits bestimmt konfrontierend. Von anderen zu sehen, wie ihre Krankheit fortschreitet und derer ‚Verlauf‘ sichtbar wird. Und bei sich selber genauso zu spüren, wie die Kraft schwindet oder manche Körperfunktionen aussetzen. Und dann mitzubekommen, wie manche schon früher sterben, wie die Angehörigen kommen und trauern und der Bestatter mit dem Sarg kommt. Wie fühlt sich das an, als zurückgebliebener Mitbewohner, oder zumindest Tischgeselle der letzten Tagen und Wochen? Ist es beängstigend? Beruhigend (er/sie hat es also auch geschafft, ich kann es auch)? Oder entsteht Neid (warum darf er schon gehen, ich warte doch schon länger)?
Bei schön oder unschön bin ich davon überzeugt, dass das Zusammen-Leben auf einer Art verbindet. Familie und Freunde müssen sich vom geliebten Verwandten oder Freund*in verabschieden, nicht doch aber von ihrem eigenen, gesamten Leben, vom Hab&Gut und sogar Körper. Die Gäste verstehen sich möglicherweise, auch ohne Worte, in ihrer Situation besser, als die eigene Familie sie naturgemäß verstehen können würde.
Einmal habe ich für einen Gast gespielt, während auch drei Freund*innen bei ihm im Zimmer zu Besuch waren. Die Freunde haben, jede*r an seinem/ihrem eigenen Platz auf der einen Seite vom Zimmer, irgendwie einzeln und doch auch zusammen leise geweint. Gleichzeitig habe ich bei dem todkranken Menschen in diesem Bett so eine große Einsamkeit wahrgenommen. Ich habe mich gefragt, ob die Besucher sich dessen bewusst waren: wie erdrückend und teilweise auch einsam diesen letzten Weg für den sterbenden Menschen selber sein kann. Es geht wohl nicht anders, dass man alleine stirbt. Aber für manche Sterbenden macht es einen großen Unterschied, ob jemand da ist, am Bett sitzt, die Hand hält (oder auch nicht) und auf dieser Weise auf deren Weg direkt an ihrer Seite ist.
4
Heimat
Wie gewohnt kam ich samt Harfe und Notentasche aus dem Aufzug, doch der Weg von dort in den Flur war mit einfachen Mitteln gesperrt. „Herr Kyriakos möchte in Griechenland sterben“, sagte mir jemanden vom Pflegepersonal - und dafür müsste der gute Mann erst mal mit dem Aufzug runter…
Herr Kyriakos, ein älterer, griechischer Herr mit großen, wachen Augen, großer Nase und sprechender Mimik, saß im Wohnzimmer. Er war erst angekommen und etwas durcheinander. An diesem Tag hat ihm die, von mir fleißig rausgeholte und gespielte, griechische Melodie wenig ausgemacht. Die Harfe war, neben sonstig vorhandenen Stuhllehnen, eine praktische Stütze um aus dem Zimmer rauszukommen.
Eine Woche später war er ruhiger geworden. Sein Zimmer war von seiner Familie sehr liebevoll eingerichtet worden. Das Bett stand geschützt an der Seitenwand, neben dem bequemen Sessel ein Korb mit schmalen, länglichen Flaschen mit Likör oder Schnaps. Seine Zimmertür war, zumindest an den Tagen an denen ich da war, immer geöffnet und er saß immer direkt im Zimmer an seinem kleinen, runden Tisch, und schaute raus wer vorbeiläuft.
Und so konnte ich mit meiner kleinen Harfe auf dem Harfenwagen nie ungesehen vorbeirollen. Er sprach immer (während seine Augen noch etwas größer wurden): ‚Wollen Sie zu mir…?‘ - eine Frage, immer gefüllt mit Tönen von Ungläubigkeit, Überraschung, Freude und Neugier. Wie könnte ich da ‚Nein‘ sagen, eine feste Planung wird eh überschätzt.
Und natürlich kam ich jede Woche zu ihm. Manchmal machte Herr K. sich Sorgen, wo man denn die Harfe abstellen könnte, wenn er dann abends ins Bett möchte. Oder er fragte mich, warum ich denn ausgerechnet zu ihm ins Zimmer möchte; ob das wegen der guten Akustik sei? Ich bestätigte, dass die Harfe bei ihm im Zimmer schon sehr schön klinge, und dann antwortete er, dass er sich das schon gedacht habe.
Langsam und mit tiefer, sonorer Stimme sang er die ihm bekannten Lieder auf Griechisch mit, und mir vor, und erklärte in aller Unschuld um was es ging (den Strand, Küsschen ‚und solche Sachen‘, und Frauen die strahlen ‚wie die Madonna‘). Manchmal klatschte er mit, manchmal wurden, langsam und sorgfältig, zuerst die Fingerspitzen der rechten, dann die Fingerspitzen der linken Hand ‚angespuckt‘ und anschließend mit vorsichtig gespreizten Armen im Takt mitgeschnipst. Immer mit dem Wissen um die Anwesenheit eines Publikums, und trotzdem Bewegungen folgend, die er wie seine Muttersprache verinnerlicht hatte.
Eines Tages hatte Herr K. wieder laut- und ausdrucksstark (das wohl auch ein bisschen an seine Schwerhörigkeit lag) die Lieder mitgesungen. Direkt nach dem Letzten brachte ich, vor Freude und Rührung, mit einer Bewegung spontan meine beiden Hände an meinen Mund, küsste sie, und warf ihm mit einer öffnenden Bewegung die Hand-Küsse zu. Der anschließende Moment zwischen uns, ein Augen-Blick, gefüllt mit Herrn K.’s Staunen, Anerkennung, Wiedererkennung, Stolz und unserer gemeinsamen Freude, war für mich golden, zeitlos und unvergesslich.
5
Mutter und Tochter
‘Dürfen wir die Musik aufnehmen?’ ‘Ja, für Ihre private Nutzung gerne.’
Ich würde etwas Ruhiges von Mozart spielen. Wir stellten das Handy der Tochter so an einen Blumentopf am Fenster, dass es die Harfe filmen würde. Die Tochter hatte so ihre Hände frei und konnte bei der Mutter am Bett sitzen. Auch das zweite Stück - das Ave Maria von Schubert, wurde aufgenommen. Mutter und Tochter waren sich, während ich spielte, sehr nahe und machten zusammen diesen Moment zu einem sehr kostbaren. Es berührte mich sehr.
Ein paar Wochen später war ich wieder im Hospiz. Die Mutter war bereits gestorben, doch die Tochter wartete auf mich. Sie kam extra noch mal ins Hospiz, um mich zu bedanken für den besonderen Moment von damals. Sie wollte mir erzählen, wie die Mutter gehen konnte:
Sie war, nachdem ich für die beiden gespielt hatte, jeden Tag am Bett ihrer Mutter. Die Mutter wurde immer schwächer. Und irgendwann war von mehreren Seiten die Idee da, sich von der Mutter zu verabschieden und sie nicht mehr zu besuchen, um ihr so die Gelegenheit zu geben, loszulassen und zu gehen.
Doch die Mutter ging nicht.
Nach mehreren Tagen beschloss die Tochter, aus einem Impuls heraus die Mutter doch noch mal zu besuchen. Sie hat sich dann ans Bett der Mutter gesetzt, war ihr nahe, und hat mit ihr noch mal die beiden Aufnahmen angehört. Mozart haben sie noch zusammen gehört. Nach den letzten Tönen von Schuberts Ave Maria sah die Tochter, dass ihre Mutter friedlich eingeschlafen war.